Illegalität
Die ersten Rückweisungen, vor allem die Abweisung der Reisenden aus dem Zug vom 11. auf dem 12. März 1938, zeigte schnell die gewünschte abschreckende Wirkung: In Wien verbreitete sich bald die Nachricht, dass österreichische Staatsbürger kaum noch legal über die Grenze kämen. Um so mehr nahmen die illegalen Versuche zu. Die Abriegelung der Grenze zeigt daher auch, wie solche Maßnahmen illegale Reaktionen und Verhaltensweisen förderten. Die erprobten Schmuggelwege und Netzwerke, die früher vor allem zur Beförderung illegaler Güter, politischer Druckwerke und politischer Flüchtlinge verwendet wurden, wurden jetzt reaktiviert.
Entlang der tschechoslowakisch-österreichischen Grenze fanden die illegalen Grenzübertritte vor allem im niederösterreichisch-südmährischen Bereich statt, am häufigsten zwischen Retz in Österreich und Znaim (Znojmo) in der Tschechoslowakei. Die Wahl dieses Grenzabschnitts hatte nicht nur mit der relativ zugänglichen Landschaft zu tun, sondern wahrscheinlich auch mit den existierenden Schmuggelnetzwerken.
Die illegalen Wege wurden aber nicht nur von AkteurInnen wie SchmugglerInnen oder politischen AktivistInnen verwendet. Auch die Polizei bzw. – nach dem „Anschluss“ – die SA führte unerwünschte AusländerInnen zur Grenze und schickte sie unter der Androhungen, im Falle der Rückkehr erschossen zu werden, auf die andere Seite. So beschreibt etwa Felix Stiastny seine Flucht aus Wien: Nachdem ihm die legale Reise mit der Bahn versperrt wurde, fuhr er mit dem Autobus zur tschechoslowakischen Grenze und versuchte nach Znaim zu gelangen. In Kleinhaugsdorf wurde er von uniformierten Männern, die er als SS beschrieb, aufgehalten und nach Wertsachen durchsucht. Am Abend wurde er mit anderen Flüchtlingen in kleineren Gruppen heimlich über die Grenze geschickt. Er und der Großteil seiner Gruppe wurden beim ersten Versuch von tschechoslowakischen Grenzpolizisten zurückgeschickt. Stiastny versuchte es sofort erneut und gelang diesmal nach Znaim, wo ihm die jüdische Gemeinde eine Fahrkarte nach Olmütz (Olomouc) kaufte, wo seine Tante lebte.
Die schnelle Beförderung der Flüchtlinge aus dem Grenzgebiet beweist, dass sich die jüdischen Gemeinden der außerordentlichen Natur dieses Raumes bewusst waren, in dem sich militärische Verteidigungsmaßnahmen, Angst vor Spionen mit der Ausländerpolitik verknüpften. Darüber hinaus war die erst 1918 entstandene tschechoslowakisch-österreichische Grenze neu – und durchschnitt zahlreiche familiäre, gesellschaftliche bzw. wirtschaftliche Verbindungen.
Viele, wahrscheinlich sogar die meisten, illegalen Grenzübertritte waren jedoch nicht erfolgreich. In einem extremen Fall berichtete die Polizei in Bratislava über den Selbstmord eines jüdischen Flüchtlings, der – zusammen mit einem Schmuggler – von der tschechoslowakischen Grenzwache erwischt wurde. Die Abweisungspraxis beeinträchtigte auch die Quellenlage: Mit jenen Flüchtlingen, die in der Grenzzone (etwa 15 Kilometer von der Grenzlinie entfernt) aufgehalten und zurückgeschickt wurden, musste kein Protokoll aufgenommen werden. Soweit bekannt, registrierten tschechoslowakische Behörden nicht einmal die Namen der auf diese Weise kurzerhand zurückgeschickten Flüchtlinge.
Eine Zeit lang war es möglich, mit dem regulären Flugverkehr in die Tschechoslowakei zu gelangen. In einigen Fällen, so fand die Prager Polizei heraus, kamen Reisende am Flughafen Prag-Ruzyně mit einem Transfer-Ticket (z. B nach Amsterdam) an und tauchten statt ihrer Weiterreise in der Stadt unter. Die Flucht mit dem Flugzeug war (wie der Luftverkehr im Allgemeinen) ein neues Phänomen und die Behörden rechneten offensichtlich kaum mit der Möglichkeit, dass jene Reisenden, die sich die teuren Flugtickets leisten konnten, illegal einreisen würden. Auch die Flughafen-Grenze war neu und die Flüchtlings-„Krise“ trug zu ihrer Festigung bei.
Jüdinnen und Juden mit tschechoslowakischer Staatsbürgerschaft waren eine spezifische Gruppe der Flüchtlinge aus Österreich. Der “Anschluss” trug auch zur Destabilisierung der außenpolitischen Lage der Tschechoslowakei bei, was sich unter anderem an dem schwachen Schutz der tschechoslowakischen jüdischen StaatsbürgerInnen zeigte, die in Österreich leben. Zahlreiche Berichte des tschechoslowakischen Justizministerium, die Noten des Außenministeriums sowie Protokolle zu einzelnen Flüchtlingen belegen die Kündigungen, Zwangsräumungen ihrer Wohnungen und Geschäfte, die Gewalt und die direkte Vertreibung.