Forschungsstand

Obwohl das Thema der Flüchtlinge und der Flüchtlingspolitik seit den 1960er-Jahren für die historiographische Auseinandersetzung mit der Reaktionen der westlichen Demokratien auf den Holocaust eine wichtige Rolle spielt, wurde der Ausweisung, Flucht und Flüchtlingspolitik zwischen Österreich und der Tschechoslowakei im Jahre 1938 bislang nur mangelnde Aufmerksamkeit gewidmet. Eine genauere Auseinandersetzung mit jenen vorwiegend jüdischen österreichischen Flüchtlingen, die zwischen dem „Anschluss“ 1938 und der sogenannten „Zerschlagung der „Rest-Tschechei“ im März 1939 aus Österreich in die ČSR geflohen waren, steht - mit Ausnahme des Buches Unsichere Zuflucht von Kateřina Čapková und Michal Frankl - also noch gänzlich aus. Daneben beschränkte sich die Forschung bislang überhaupt nur auf einige kürzere Artikel, vorwiegend in tschechischen oder slowakischen Publikationen. 1 Während Čapková und Frankl – v.a. basierend auf den Quellen in Archiven in der Tschechischen Republik – die tschechoslowakische Flüchtlingspolitik 1938 untersuchten 2, blieben gerade zur Geschichte der Flüchtlinge aus Österreich noch viele Fragen offen.

In beiden Ländern wurde das Flüchtlingsthema vor allem im Bezug auf die Nationalgeschichte erforscht und rezipiert. Flüchtlinge wurden dabei als politische KämpferInnen betrachtet, die für die Zukunft ihres Landes wirkten und die Heimat mit sich trugen. Im Falle der Tschechoslowakei gehörten sie zu dem teils idealisierten Bild eines demokratischen und toleranten Landes inmitten nationalistischer autoritärer Regime. Die Geschichte der mehrheitlich jüdischen Flüchtlinge des Jahres 1938 entsprach diesen Paradigmen kaum.

Publikationen zu Flüchtlingen in der Tschechoslowakei waren stark auf die Flucht aus Deutschland nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten ab 1933 ausgerichtet oder weitgehend auf die Aktivitäten von politisch aktiven Flüchtlingen und bekannten KünstlerInnen und Intellektuellen beschränkt, während die Schicksale und der Alltag von Flüchtlingen, die abseits der politisch-kulturellen Elite standen, gänzlich zu fehlen scheint. 3 Ebenso wurde die Flucht bislang kaum in einen breiteren, europäischen Kontext der Flüchtlingspolitik der Zwischenkriegsjahre gesetzt.

In der Tschechischen Republik wurde das Thema der österreichischen Flüchtlinge in die ČSR bislang durch die HistorikerInnengemeinde oder in der Öffentlichkeit kaum rezipiert. Dieses Versäumnis hängt nicht zuletzt mit der Tatsache zusammen, dass die Erste Tschechoslowakische Republik (1918-1938) als Vorbild für die tschechoslowakische bzw. tschechische Demokratie nach 1989 verstanden wird. Die Ausweisung der jüdischen Flüchtlinge widerspräche diesem Bild deutlich.

In Österreich wurde zwar die Verfolgung der Jüdinnen und Juden einschließlich der verschiedenen Gruppen der Exil-Österreicher detailliert erforscht, die Flüchtlinge in die ČSR wurden jedoch fast vollständig außer Acht gelassen. Diese Forschungslücke hängt u.a. auch mit der allgemein nicht zufriedenstellenden Aufarbeitung der Flüchtlingspolitik der Staaten im Osten des ehemaligen NS-Deutschland zusammen. Bisherige Publikationen über österreichische Flüchtlinge in der Tschechoslowakei beschränkten sich vornehmlich auf das politische Exil nach den Februarkämpfen 1934. Dabei standen in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg persönliche Erinnerungen und Lebensberichte politisch verfolgter Personen im Zentrum der Publikationen. 4

Auch die bereits 1980 begonnene Dokumentationsreihe Österreicher im Exil des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstandes (DÖW) erfasste in der Auswahl der Beispiele immer wieder Dokumente zu Flüchtlingen in der Tschechoslowakei. Ein eigener Band liegt jedoch bislang weder zur Tschechoslowakei noch zu einem anderen Nachbarstaat Österreichs vor. 5 In den letzten Jahrzehnten erschien darüber hinaus eine Reihe wissenschaftlicher Arbeiten zum Exil und der illegalen Tätigkeit sozialdemokratischer Funktionäre bzw. der Funktionäre der Revolutionären Sozialisten und des Schutzbundes um das Auslandsbüro der österreichischen Sozialdemokraten (ALÖS ) in Brünn. 6 Die Flucht im Krisenjahr 1938 blieb jedoch bislang gänzlich unbearbeitet.

Einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der ungarischen Politik gegenüber jüdischen Flüchtlingen leistete Kinga Frojimovics, die hierbei auch auf einige Aspekte zu den in die Tschechoslowakei ausgewiesenen burgenländischen Jüdinnen und Juden einging. 7 Das Großprojekt des Instituts für Zeitgeschichte München „Die Verfolgung und Ermordung der Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945“ legte zwar unlängst mit dem Band 3 „Deutsches Reich und Protektorat 1939-1941“ einen wichtigen Beitrag zur Verfolgung der deutschen Jüdinnen und Juden vor. 8 Dabei wurde die Vertreibung der österreichischen Jüdinnen und Juden zwischen März 1938 und März 1939 in das anfangs für die jüdischen ÖsterreicherInnen wohl wichtigste Exilland jedoch bislang nicht bearbeitet.

1 – Siehe etwa: Johnny Moser, Československo ako ciel’ úteku Rakúskych Židov (Die Tschechoslowakei als Fluchtziel österreichsicher Juden), in: Institut Judaistiky University Komenského v Bratislave (Hg.), Židovská komunita na Slovensku. Obdobie autonómie. Porovnanie s vtedajšími udalost’ami v Rakousku, Bratislava 1999, S. 86-88; Wilma A. Iggers, Die Emigration der deutschen und österreichiischen Juden in der Tschechoslowakei, in: Jörg K. Hoensch, Stanislav Biman, L’ubomír Lipták (Hg.), Judenemanzipation – Antisemitismus – Verfolgung in Deutschland, Österreich-Ungarn, den Böhmischen Ländern und der Slowakei, Essen 1999 (= Veröffentlichungen der Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slowakischen Historikerkommission Bd. 6; zugleich: Veröffentlichungen des Instituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa Bd. 13).

2 – Kateřina Čapková, Michal Frankl, Nejisté útočiště. Československo a uprchlíci před nacismem, 1933–1938, Praha 2008. [Kateřina Čapková, Michal Frankl, Unsichere Zuflucht. Die Tschechoslowakei und ihre Flüchtlinge aus NS-Deutschland und Österreich 1933-1938 (= Reihe Jüdische Moderne; Bd. 13), Köln-Weimar-Wien 2012.]

3 – Siehe etwa: Gertruda Albrechtová, Zur Frage der deutschen antifaschistischen Emigrationsliteratur im tschechoslowakischen Asyl, Historica, 1964, Nr. 8, S. 177-233; Miroslav Beck, Jiří Veselý, Exil und Asyl. Antifaschistische deutsche Literatur in der Tschechoslowakei, 1933-1938. Berlin 1981; Heinz Spielmann, Kokoschka in Prag, in: Peter Becher, Peter Heumos (Hg.), Drehscheibe Prag. Zur deutschen Emigration in der Tschechoslowakei 1933-1939. München 1992, S. 87-96; Jan M Tomeš, John Heartfield und der Künstlerverein Mánes, in: ebenda.

4 – Siehe etwa: Joseph Buttinger, Am Beispiel Österreichs. Ein geschichtlicher Beitrag zur Krise der sozialistischen Bewegung, Köln 1953; Otto Bauer, Die illegale Partei, Paris 1939. Julius Deutsch, Ein weiter Weg. Lebenserinnerungen, Zürich-Leipzig-Wien 1960; Otto Leichter, Zwischen zwei Diktaturen. Österreichs Revolutionäre Sozialisten 1934 – 1938, Wien-Frankfurt-Zürich 1968; Beppo Beyerl, Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Mein Brünn, in: Literatur und Kritik, November 2007.

5 – Bislang erschienen in der Reihe Österreicher im Exil Bände zur Sowjetunion, den USA, Mexiko, Belgien, Frankreich und Großbritannien.

6 – Siehe etwa: Karl R. Stadler, Opfer verlorener Zeiten. Geschichte der Schutzbund Emigration 1934, Wien 1974; Christoph Höslinger, Die ‚Brünner Emigration‘ als diplomatischer Konfliktstoff zwischen Wien und Prag, in: Thomas Winkelbauer (Hg.), Kontakte und Konflikte. Horn – Waidhofen an d. Thaya 1993, S. 413-428; Vojtěch Blodig, „Die tschechoslowakischen politischen Parteien und die Unterstützung der deutschen und österreichischen Emigration in den 30er Jahren“, in: Peter Glotz (Hg.), München 1938. Das Ende des alten Europa. Essen 1990, S. 251-270; Kateřina Čapková, Michal Frankl, Nejisté útočiště. Československo a uprchlíci před nacismem, 1933–1938, Praha 2008; Barry McLoughlin, Hans Schafranek, Walter Szevera , Aufbruch – Hoffnung – Endstation, Wien 1997; Manfred Marschalek, Untergrund und Exil. Österreichs Sozialisten zwischen 1934 und 1945, Wien 1989; Dokumentationsarchiv des Österreichsichen Widerstandes (Hg.) unter Bearbeitung von Barry McLoughlin, Hans Schafranek, Österreicher im Exil. Sowjetunion 1934 – 1945, Wien 1999. Ernst Hanisch, Der große Illusionist, Otto Bauer (1881 - 1938), Wien 2011. Darüber hinaus ist das Gedenkbuch Österreichischer Stalin-Opfer von Barry McLoughlin und Josef Vogl in Vorbereitung, das sich auch mit den Schutzbund-Mitgliedern beschäftigen, die über die Tschechoslowakei in die Sowjetunion geflohen waren.

7 – Kinga Frojimovics, I Have been a Stranger in a Strange Land: The Hungarian State and Jewish Refugees in Hungary, 1933-1945, Jerusalem 2007.

8 – Siehe: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945: Deutsches Reich und Protektorat September 1939 - September 1941. Band 3. Bearb. von Andrea Löw. 2012.

Der beschriebene Forschungsstand bezieht sich auf den Zeitpunkt der Veröffentlichung der Online-Edition im Frühjahr 2018.