Ausweisung der burgenländischen Jüdinnen und Juden
Die SA verhielt sich gegenüber den Jüdinnen und Juden im Burgenland ähnlich wie gegenüber den „polnischen“ Jüdinnen und Juden. In dieser „neuen“ Grenzregion mit unsicherer Identität, die erst nach dem Ersten Weltkrieg Österreich zugeordnet worden war, wurden Jüdinnen und Juden, wie z. B. auch im Sudetenland nach dem „Münchner Abkommen“, als Nicht-StaatsbürgerInnen behandelt.1 Studien über “Borderlands” bewiesen, dass gerade in den Grenzregionen oft die charakteristischen Merkmale der Nation und der Staatsbürgerschaft ausgehandelt und visualisiert werden. Kleinere Gruppen burgenländischer Jüdinnen und Juden wurden über die nahen Grenzen in die Tschechoslowakei, nach Ungarn und Jugoslawien vertrieben. Alle drei Nachbarstaaten reagierten mit Grenzsperren und schickten die Vertriebenen zurück.
Die Radikalität und die Geschwindigkeit der burgenländischen Ausweisungspraxis sowie der restriktive Charakter der Flüchtlingspolitik der Nachbarstaaten wird durch den Fall der Jüdinnen und Juden aus Kittsee und Pama verdeutlicht, die in der Nacht von 16. auf 17. April 1938 durch die SA aus ihren Häusern geholt und in der Dunkelheit auf Fischerbooten über die Donau auf die tschechoslowakische Seite geschmuggelt wurden. Die Gruppe von etwa fünfzig Personen, einschließlich alter Menschen und Kinder, wurde in der Nähe von Bratislava auf einer Insel unterhalb der tschechoslowakischen Ortschaft Theben (Devín) durchnässt in der Kälte ihrem Schicksal überlassen. Als die Vertriebenen am nächsten Tag von der tschechoslowakischen Gendarmerie entdeckt wurden, erlaubte man der orthodoxen jüdischen Gemeinde in Bratislava, die österreichischen Jüdinnen und Juden mit koscherem Essen zu versorgen; danach wurden sie jedoch über die Schubstation in Bratislava wieder nach Österreich auf kurzem Weg ausgewiesen. Ähnliche Vorgänge wiederholten sich anschließend an der österreichisch-ungarischen Grenze und ein Teil dieser Menschen verblieb in elenden Bedingungen im Niemandsland im Antonienhof (in der Nähe des Dreiländerecks).
Letztendlich sah sich die orthodoxe jüdische Gemeinde in Bratislava (wie unter anderem aus den Erinnerungen von Aron Grünhut klar wird) gezwungen, die Vertriebenen auf einem Schleppboot unterzubringen, das beim ungarischen Ort Rajka an der Donau ankerte. Die Donau galt als internationales Gewässer, auf dem kein Staat den Aufenthalt der Vertriebenen verhindern konnte. Die Versorgung wurde von den Jüdinnen und Juden in Rajka übernommen und erfolgte unter stillschweigender Duldung der ungarischen Behörden. Auf dem Boot fanden auch andere aus dem Burgenland ausgewiesene Gruppen Unterschlupf.
Wie aus dem Zeitzeugenbericht von Izchak Roth hervorgeht, waren die Lebensbedingungen an Bord vor allem für ältere Menschen unerträglich. Wegen des Raummangels konnten nicht alle Insassen zur selben Zeit schlafen, sondern wechselten sich in Schichten ab. Für Kinder organisierte die Gruppe Unterricht - vor allem Hebräischunterricht. Noch schlimmer war das Gefühl, von der ganzen Welt verlassen zu sein, wovon auch die Appelle an Hilfsorganisationen Auskunft geben. Erst nach vier Monaten gelang es den Hilfsorganisationen – vor allem der HICEM – im August 1938 unter Druck der ungarischen Regierung 2 die Auswanderung für diese Flüchtlingsgruppe nach Palästina und in die Vereinigten Staaten zu organisieren.
Der erzwungene Aufenthalt der burgenländischen Jüdinnen und Juden auf dem Donau-Schleppkahn belegt die Bedeutung des Niemandslands für die Flüchtlingserfahrung des Jahres 1938. Die zwischen den Grenzen gefangene Gruppen, die oft auf den Feldern über mehrere Wochen ausharren mussten, hatten nicht nur mit der Grenzsperre für jüdische Flüchtlinge zu tun, sondern auch mit der Verunsicherung der jüdischen Staatsbürgerschaft in Ostmitteleuropa im Kontext der Grenzrevisionen und Ausbürgerung der Jüdinnen und Juden aus NS-Deutschland. 3
1 Gert Tschögl, Barbara Tobler, und Alfred Lang, Hrsg., Vertrieben. Erinnerungen burgenländischer Juden und Jüdinnen (Wien: Mandelbaum, 2004).
2 Kinga Frojimovics, I Have Been a Stranger in a Strange Land. The Hungarian State and Jewish Refugees in Hungary, 1933-1945 (Jerusalem: International Institute for Holocaust Research, Yad Vashem, 2007).
3 Michal Frankl, “No Man’s Land: Moving Borders and Shifting Citizenship in 1938 East-Central Europe,” Simon Dubnow Jahrbuch, im Druck.